Die Décharge-Erteilung im Stockwerkeigentum

Liegenschaftsverwaltungen werden jährlich durch den Décharge-Beschluss der Stockwerkeigentümergemeinschaft entlastet; ein klagbarer Anspruch der Verwaltung auf Décharge-Erteilungen besteht jedoch nicht.

Entlastungsanspruch

Jährlich beschliesst die Stockwerkeigentümerversammlung über die Déchargeerteilung an die Verwaltung. Dies entspricht der gängigen Praxis, obwohl die Décharge-Erteilung im Recht des Stockwerkeigentums gesetzlich nicht vorgesehen ist. Mit dem Décharge-Beschluss bestätigen die Stockwerkeigentümer, dass die Verwaltung für alle bekannten Umstände des Geschäftsjahrs zukünftig nicht belangt wird. Es handelt sich bei diesem Entlastungsentscheid um eine sog. negative Schuldanerkennung zugunsten der Verwaltung: Wird eine Décharge erteilt, gehen jegliche Schadenersatzansprüche der Stockwerkeigentümergemeinschaft gegenüber der Verwaltung unter, soweit die Stockwerkeigentümer Kenntnis für die jeweiligen Umstände hatten. Der Entlastungsentscheid schafft damit Sicherheit und schliesst die Gefahr einer späteren Rechenschaftspflicht der Verwaltung gegenüber der Stockwerkeigentümerversammlung aus. Angesichts der zumindest vordergründigen Vorteile für die Verwaltung scheint es naheliegend, dass diese an die Erteilung einer Décharge interessiert ist. Im vorliegenden Beitrag soll deshalb geklärt werden, ob die Verwaltung einen Anspruchauf eine entsprechende Entlastungserklärung hat. Hierzu sind zwei Fragen zu klären, nämlich ob die Verwaltung darauf bestehen kann, dass anlässlich der jährlichen Versammlung überhaupt über die Décharge entschieden wird und weiter, ob bei einwandfreier Verwaltungstätigkeit denn auch ein Anspruch auf tatsächliche Erteilung der Décharge besteht. Zudem sind die Konsequenzen eines allenfalls bestehenden Décharge-Anspruchs aufzuzeigen.

Unterschiedliche Ansichten im Aktienrecht

Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen ist ein Blick ins Aktienrecht zu werfen, wo die Décharge-Erteilung der Generalversammlung zugunsten des Verwaltungsrats in Art. 698 Abs. 5 OR gesetzlich verankert ist. Es besteht jedoch auch dort Uneinigkeit darüber, ob darin ein Entlastungsanspruchder Verwaltung begründet ist. Ein Teil der Lehre ist der Ansicht, dass zwar ein Anspruch auf Beschlussfassungüber die Décharge-Erteilung besteht, nicht aber ein Recht auf die Entlastung als solche. Der Verwaltungsrat kann also lediglich darauf bestehen, dass über die von ihm traktandierte Décharge beschlossen wird. Die Generalversammlung braucht sich jedoch für eine abgelehnte Entlastung nicht zu rechtfertigen und kann die Décharge etwa auch dann ablehnen, wenn die Tätigkeit des Verwaltungsrates unbeanstandet blieb. Nach anderer Auffassung hingegen steht den Mitgliedern des Verwaltungsrates ein Anspruch auf eine Entlastungserklärung zu, wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Danach kann der Verwaltungsrat nicht nur die Beschlussfassung, sondern die Erteilung der Décharge als solche gerichtlich durchsetzen.

Deutsche Rechtsprechung schafft Klarheit

Der deutsche Bundesgerichtshof klärte diesen auch im deutschem Gesellschaftsrecht bestehenden Rechtsstreit und verneinte dort generell einen Anspruch auf Décharge-Erteilung. Zum einen sei ein Recht auf Entlastung mit deren Zweck nicht vereinbar. Diese stelle eine Vertrauensbekundung dar. Zum anderen stünden die an eine Décharge geknüpften Rechtsfolgen im Belieben aller Gesellschafter. Eine Entlastung könne deshalb auch willkürlich oder aus offenbar unsachlichen Gründen verweigert werden. Selbst nach deutschem Aktienrecht, nach welchem die Hauptversammlung alljährlich über die Entlastung beschliessen muss, besteht kein eigentlicher Entlastungsanspruch.

Kein Anspruch auf Décharge

Die deutsche Rechtsprechung verdient Zustimmung. Zunächst fehlt es im Schweizer Recht an einer gesetzlichen Grundlage zur Annahme eines Entlastungsanspruchs. Dies gilt für das Stockwerkeigentum umso mehr, als das Institut der Décharge hier gar nicht erst gesetzlich verankert ist. Darüber hinaus lässt sich ein solcher Anspruch weder aus dem Zweck noch aus der Wirkung einer Décharge ableiten. Die Entlastung dient von ihrem Wesen her zur Hauptsache der Vertrauensbekundung für die Zukunft, worauf per se kein erzwingbarer und einklagbarer Anspruch bestehen kann. Zudem dient die Entlastung auch der Zweckmässigkeitskontrolle und beinhaltet damit ein nicht-justiziables Werturteil über die Geschäftsführung als solche. Ist schon im Aktienrecht ein Anspruch auf Décharge-Erteilung höchst umstritten und nach deutschem Gesellschaftsrecht gänzlich abzulehnen, muss er im Stockwerkeigentum über eine analoge Anwendung der diesbezüglichen aktienrechtlichen Grundsätze ebenso ausgeschlossen werden. Ob ein Anspruch, zwar nicht auf Erteilung, aber auf Beschlussfassung über die Décharge besteht, kann dahingestellt bleiben. Einerseits beschliesst die Liegenschaftsverwaltung – es sei denn sie sei schon abgelöst worden – selbst, worüber die Generalversammlung abstimmt und hat es somit in der Hand, eine Beschlussfassung herbeizuführen. Andererseits ist die Annahme eines Anspruchs auf Beschlussfassung allein, ohne gleichzeitig ein Recht auf Entlastungserteilung bei gegebenen Voraussetzungen einzuräumen, sinnfrei: Mit der Verweigerung einer Entlastung ist noch nichts gewonnen, sie schafft keine Klarheit über die Verantwortlichkeit der involvierten Verwaltung. Sie sagt auch noch nichts darüber aus, ob und welche Verantwortlichkeitsansprüche von den Stockwerkeigentümern geltend gemacht werden. Es besteht nach der Beschlussfassung demnach die gleiche Unsicherheit wie sie vor ihr bestanden hat.

Kein Grund zur Sorge

Abschliessend ist deshalb festzuhalten, dass die Verwaltung von Stockwerkeigentum kein Anspruch auf Décharge-Erteilung hat. Dabei sind jedoch die von den Verwaltungen befürchteten Rechtsnachteile oder die durch eine Décharge erhofften Vorteile stark zu relativieren, denn deren rechtliche Wirkung bleibt ohnehin äusserst beschränkt: Zunächst geht die Wirkung der Entlastung nur so weit, wie das Wissen der Décharge-Erteilenden, d.h. der Stockwerkeigentümer reicht. Selbst wenn ein Entlastungsanspruch anzunehmen wäre, gäbe es im Streitfall keine Gewähr dafür, dass der fragliche Gegenstand überhaupt von der Décharge umfasst ist. Die Tatsache, dass eine Verwaltung keinen Anspruch auf Décharge-Erteilung hat, stellt für sie deshalb noch keine Rechtseinbusse dar. Sie bedeutet lediglich, dass ein allfälliges Klagerecht der Stockwerkeigentümer gegenüber der Liegenschaftsverwaltung weiterhin bestehen bleibt. Nebst einem möglichen Imageschaden hat eine abgelehnte Décharge aber keine rechtlichen Konsequenzen. Dies, zumal diejenige Person, die meint, einen Anspruch auf Décharge zu haben, auch im Klagefall nichts zu befürchten hat.

Dr. Noémi Biro, Advokatin, und Michel de Roche, Advokat

 

Dieser Text erschien in der Novemberausgabe 2018 der Immobilia, der Verbandszeitschrift des SVIT Schweiz. Er ist die Kurzversion eines deutlich längeren Beitrags, der in der Zeitschrift "Der Bernische Notar" in der Ausgabe 1/2019 abgedruckt wurde. Sie können diese lange Version hier herunterladen. Beide Publikationen wurden von Michel de Roche und der ehemaligen Mitarbeiterin Dr. Noémi Biro verfasst.

Bei Fragen rund um dieses Thema steht Ihnen Michel de Roche gerne zur Verfügung.